Ich habe in meinem Leben oft das Gefühl gehabt, ungerecht behandelt worden zu sein. Diese Tatsache wäre für mich nicht das Schlimmste gewesen. Aber wenn sich jemand für verursachtes Leid nicht entschuldigt, daran hatte ich wirklich zu knabbern. So viele Jahre wartete ich auf eine Wiedergutmachung und Entschuldigung. Doch in vielen Fällen wartete ich vergebens. Denn häufig sind unsere Mitmenschen sich gar nicht darüber bewusst, was sie alles in uns anrichten, welchen Schmerz sie verursachen, oder aber sie nehmen es wahr, können aber dennoch nicht aus ihrer eigenen Haut und um Vergebung bitten.
Ich war jahrelang wie in einer Art Warteschleife gefangen. Wenn die Entschuldigung kommen würde, die Wiedergutmachung, dann wäre alles gut und ich könne endlich wieder mein Leben leben. Doch das bedeutete auch gleichzeitig, dass ich ständig auf ein glücklicheres Leben wartete, ohne es je zu erleben.
Ein Beispiel aus meiner Kindheit
Aufgewachsen bei den Zeugen Jehovas machte ich Erfahrungen, die mich sowohl physisch als auch psychisch traumatisierten. Im Jugendalter war mein Selbsterhaltungstrieb so stark, so dass ich genügend Kraft in mir fand um mich von dieser Sekte zu befreien. Ich wurde ausgeschlossen und seitdem darf kein getaufter Zeuge Jehovas mehr mit mir reden – auch meine Eltern nicht.
Erst in den vielen Jahren nach meinem Sektenausstieg wurde mir immer mehr bewusst, was ich dort alles erlebt hatte und wie tief mein Kummer und meine Verletzungen saßen. Ich empfand es lange Zeit als ungerecht, dass mir dies alles widerfahren ist. Ich hoffte auf eine entschuldigende Geste von Seiten meiner Eltern und der Zeugen Jehovas. Doch nichts dergleichen geschah. Ich existiere für sie nicht mehr. Die Wiedergutmachung, auf die ich so lange waretete oder nur ein Wort der Verzeihung, kam nicht und wird auch in Zukunft nicht kommen.
Schau dir die Situation mit anderen Augen an
In diesen Fällen hilft es mir zu versuchen, mein Gegenüber zu verstehen. Was geht in ihm vor? Warum tut er etwas oder tut etwas nicht? Was könnten seine Beweggründe sein? Wie mag wohl seine Sicht der Dinge sein? Und was hält ihn möglicherweise zurück um Verzeihung zu beten?
Die Beantwortung dieser Fragen lässt das Thema Schuld sehr schnell irrelevant erscheinen. Denn es mag verletztend gewesen sein, es mag mich getroffen haben, es mag in meinen Augen Unrecht gewesen sein, aber dennoch haben sie in ihren Augen und gemäß ihrer eigenen Überzeugungen und inneren Wahrheit gehandelt. Es ist hilfreich sich die Situation einmal mit der Brille seines Gegenübers anzuschauen. Wie sieht er/sie die Welt, mich und den Konflikt?
Das bedeutet nicht, dass ich gutheißen muss, was geschehen ist. Es geht hierbei lediglich darum, Verständnis aufzubringen für das Verhalten meines Gegenübers. Und wenn ich in der Lage bin ihn zu verstehen, dann besteht die Möglichkeit, dass sich daraus eines Tages echtes Mitgefühl für mein Gegenüber entwickelt.
Nochmal: Es bedeutet nicht, dass du es gutheißen sollst. Aber egal was auch immer dir geschehen ist, versuche dich einfach nur für ein paar Augenblicke in die Lage deines Gegenübers zu versetzen und zu verstehen.
Manchmal klärt sich darüber vieles und Missverständnisse können aufgelöst werden. Manchmal stellen wir jedoch auch fest, dass keinerlei Kommunikation möglich ist und unser Gegenüber nicht bereit ist auf uns zuzugehen, nicht willens ist uns zu verstehen oder einzulenken. In solchen Fällen können wir zwar Verständnis aufbringen, bleiben aber mit dem unguten Gefühl des erlebten und nicht wieder gutgemachten Unrechts zurück.
Was kann ich in so einer Situation tun?
Für den Akt der Vergebung und der Entschuldigung benötigen wir kein Gegenüber. Vergebung entsteht in uns selbst und ist unabhängig von der Reaktion im Außen. Vergebung bedeutet im ersten Schritt aufzuhören, dem anderen die Schuld zu geben. Vergebung bedeutet aufzuhören, dem anderen unsere Misere immer und immer wieder vorzuwerfen. Vergebung bedeutet Verständnis für unser Gegenüber aufzubringen, seine eigene Not und Unvollkommenheit zu erkennen und ihn deswegen voller Gnade zu entschuldigen.
Wir selbst können die Vergebung und Entschuldigung herbeiführen – indem wir es einfach tun. Indem wir den anderen Ent-Schuldigen. Wir vergeben indem wir die Schuldzuweisung beenden.
Warum sollte ich das tun?
Warum sollte ich vergeben und entschuldigen, was sich doch so schmerzvoll und ungerecht anfühlt? Wieso sollte ich auf mein Recht der Wiedergutmachung zu pochen verzichten? Wieso sollte ich vergeben, wenn ich doch angegriffen und unfair behandelt werde?
Weil der einzige Mensch, der in dem Fall der Verlierer ist, du selbst bist! Deine eigene Energie wird geschwächt und dein eigenes Lebensglück schmälert sich. Es ist dein eigener Rucksack den du mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen beschwerst. Und dieser Rucksack wird im Laufe der Jahre immer schwerer und schwerer und wir gehen immer gebeugter durch unser Leben und haben schwer an unserer Last zu tragen.
Um wieder aufrecht, voller Energie und Freude durch das Leben gehen zu können ist es unabdingbar zu vergeben, zu verzeihen, zu entschuldigen und zu lieben. Sich selbst und seinen Nächsten.
Vielleicht mögen es wirklich vorsätzliche Taten gewesen sein. Vielleicht mag es ein zum Himmel schreiendes Unrecht gewesen sein, das du erlebt hast. Vielleicht haben manche unserer Nächsten unsere Vergebung nicht verdient. Aber du hast es verdient! Du hast es verdient deinen Rucksack zu leeren und mit leichter, heiterer und versöhnlicher Energie durch dein Leben zu gehen.
Schuldzuweisungen, Groll und Wiedergutmachungserwartungen halten uns in der Vergangenheit fest. Doch um unser Leben in eine positive Zukunft zu lenken, müssen wir selbst es uns wert sein, diesen Schritt zu gehen, alle Vorwürfe loszulassen und endlich Frieden in uns zu finden. Weil du es wert bist und weil du es verdient hast. Darum solltest du es tun. Für dich! Für deinen inneren Frieden.
Es ist dein Leben und es liegt an dir zu vergeben, zu verzeihen und zu entschuldigen. Das ist eine Sache, die einzig und allein in dir selbst stattfindet. Gib deinem Gegenüber nicht die Macht darüber zu entscheiden, ob du eines Tages wieder glücklich wirst, indem du dein Glück davon abhängig machst, ob der andere sich entschuldigt oder nicht. Ob er oder sie sein Unrecht einsieht oder nicht. Hol dir die Macht über dein Lebensglück und deinen inneren Frieden wieder zurück und entscheide selbst, ob und wann und wie du vergeben möchtest – unabhängig vom Verhalten deines Gegenüber.
Vergebung ist ein Akt der Selbstliebe. Vergebung schenkt deinem Inneren Kind und somit dir selbst Frieden in der Tiefe deines Seins.
Zum Krieg gehören Zwei, zum Frieden jedoch nur Einer.
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Foto: Mathias Wild
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